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Mit Natur zu tun...
Zu den Papier- und Zellstoffarbeiten von Wolfgang Heuwinkel

Am Anfang war das Papier -
Heuwinkels Sensibilität für die besonderen Materialeigenschaften von Papier ist bereits in seinen frühen Aquarellen erkennbar. Wie sich die flüssige Aquarellfarbe auf der strukturierten Oberfläche des Blattes verhält, wie sie mit der Hand kaum ertastbare winzige Erhöhungen umspült und sich in Vertiefungen sammelt, wie sie beim Auftrocknen Ufer-artige Pigmentsäume hinterläßt, wie sie sich absetzt und schließlich eins wird mit dem aufgerissenen Blatt in dem die Farbe tief in die Fasern des Materials eingedrungen ist - das alles sind ihm wundersame und deshalb zeigenswerte Entdeckungen.
Heuwinkel beginnt, mehr und mehr Parallelen zwischen seiner künstlerischen Arbeit und gewissen Abläufen in der Natur zu entdecken. Das malerische Geschehen auf dem Blatt wandelt sich dabei grundlegend: Nicht mehr die faktische, von den oberflächlichen Erscheinungen ausgehende Schilderung der Landschaft interessiert, sondern die Frage nach den Ursachen, nach dem Warum?. Was hat diese oder jene Landschaft so und nicht anders geformt? Welche Kräfte waren am Werk?
Die unmittelbare Naturanschauung und der experimentelle Umgang mit der Aquarelltechnik führen Wolfgang Heuwinkel zu einer tieferen Ein-Sicht in die Natur und zu einer eigenständigen künstlerischen Position.

Dem Papier und seinen universalen Eigenschaften wird fortan das Hauptaugenmerk zugewendet, während die Farbe vorübergehend in den Hintergrund zu treten scheint. Heuwinkel verwendet flüssigen Pulp ebenso wie Rohpapier- bzw. Zellulosebögen, um daraus nunmehr überwiegend skulpturale Objekte oder auch ganze Installationen herzustellen. Wichtig ist, daß er dabei häufig das Atelier verläßt und in der freien Natur arbeitet. Da werden Baumstümpfe oder Weidenpfähle mit Pulp überformt, Bruchholz mit Pulp ergänzt. Vor der grünen Folie der Natur wirken diese "klinisch" weißen Formen ganz fremd, wie Gipsverbände, als ob es Heuwinkel darum ginge, der Natur im Sinne einer Heilung etwas von dem zurückzugeben, was ihr zur Herstellung des Papiers gewaltsam entrissen wurde. Ein Beispiel hierzu sind die "verfüllten" Holzscheite.

In anderen Arbeiten, bei denen z. B. Bäume aus Stapeln von Zellstoff-Ballen emporwachsen, mag das zyklische Prinzip der Natur bzw. auch der Nachhaltigkeitsgedanke anregend gewesen sein.

Dort, wo strahlend weißes Pulp in das Gezweig eines Baumes gebracht wird, d. h. die gewachsenen, natürlichen Blätter eine Verfremdung erfahren, spielt die Veränderung und der Zeitgedanke eine Rolle - denn der Baum wird uns im nächsten Frühjahr wieder mit frischem Grün erfreuen. Wichtiger ist Heuwinkel jedoch der Aspekt, dass man Holz hier sozusagen in verschiedenen Aggregatzuständen begegnet. Denn auch die flüssige Zellulose, die dem Baum anhaftet, ist nichts anderes als Holz. Sie bildet mit ihm eine "Natur-Skulptur".

Eindrucksvoll und zum Nachdenken anregend sind auch jene Arbeiten, bei denen Heuwinkel das Material ganz sich selbst bzw. den Einflüssen von Wind und Wetter aussetzt. Der sich selbst überlassene Bogenstapel dokumentiert einen Prozess, macht Zeit, macht Veränderungen bewusst. Aber er wartet auch mit einer Überraschung auf, denn er zeigt uns eine Ästhetik des Zerfalls, die das Ergebnis einer aktiven künstlerischen Handlung sein könnte.
Aus dem anfänglichen Arbeiten nach der Natur ist über das Arbeiten parallel zur Natur nunmehr ein Arbeiten mit der Natur geworden.

Für Heuwinkels neuere Arbeiten war die Frage von Bedeutung, wie verhalten sich Papiere und verschiedene Flüssigkeiten zueinander - also eigentlich eine mehr naturwissenschaftliche als künstlerische Frage, wie sie von den Künstlern der Zero-Gruppe oder der Neuen Gruppe Saar zu erwarten gewesen wäre, denen Heuwinkels neuere, immer stärker auf Grundsätzliches abzielende Arbeiten so manche Anregung verdanken.

Den Anfang machten seine Untersuchungen mit Papierbahnen, die mit einem Ende in Öl getaucht wurden. Die Kapillarwirkung, die das Öl zu einer gewissen Höhe aufsteigen und dabei die Bahn partiell transparent werden ließ, beschäftigt ihn seither anhaltend. Dabei kommt neuerdings wieder die Farbe ins Spiel. So werden bei einer großen Bodenarbeit von 2005 drei Stapel rechteckiger Zellstoffplatten senkrecht in flache, mit Rot, Blau und Orange gefüllte Schalen gestellt, die in einer Reihe angeordnet sind. Wie zu erwarten, werden die Platten mit der aufsteigenden Farbe in ihrem unteren Teil instabil, wobei sie sich krümmen und tiefer in die Farbe eintauchen. Der Zelluloseplatten-Stapel verliert dabei seine strenge Blockhaftigkeit. Er nimmt eine bewegte, wellige Form an, die sich auf den Kapillar-Verlauf auswirkt. Dabei entstehen hier und da Säume bzw. Absätze, die sich als Pigmentansammlungen darstellen. Während des Aufstiegs der Farben bleiben beigemengte andersfarbige Pigmente (z. B. der Rotanteil im Blau) sozusagen "auf der Strecke" und hinterlassen ihre eigene Spur.
Bei anderen Arbeiten sind die Platten der Zellstoff-Blöcke waagerecht angeordnet und ziehen gleichzeitig vier verschiedenen Farben. Sie vermischen sich eigentlich nicht.

Bei der für "Papier=Kunst 5" entstandenen Bodenskulptur "Berührungen" sind Zellstoffplatten schräg in Farbwannen so angeordnet, dass sich ihre Ränder an einem einzigen Punkt berühren. Verblüffende Prozesse sind nun zu beobachten: es findet ein Farbtransfer statt. So wandert das Rot in das Grün, während das Blau zunächst kaum tangiert wird. Stunden/Tage später kann sich jedoch eine andere Farbe als dominant und besonders aktiv herausstellen. Permanente Veränderungen sind zu erwarten.

Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Arbeiten ist, dass Heuwinkel keine Behauptungen aufstellt, sondern Fragen formuliert. Nicht die Gewissheiten interessieren ihn, sondern das unbekannte Land. Sein Impuls ist die Neugierde. Nur sie führt zu neuen Einsichten über unsere Umwelt und uns selbst. Erfreulich, an den Entwicklungen dieser anhaltenden Recherche über das Zusammenwirken von Papier und Farbe teilhaben zu können.

Dr. Wolfgang Vomm, Direktor Städtische Galerie Villa Zanders, Bergisch Gladbach,
Katalog "papier=kunst", 2005