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KUNST AUS PAPIER
Zur Ikonographie eines plastischen Werkmaterials der zeitgenössischen Kunst

Juliane Bardt

10.3 Ausgewählte Künstler
10.3.1 Wasser: Wolfgang Heuwinkel

Wolfgang Heuwinkel (*1938) bedient sich zur Zerstörung eines Rohstoffes, aus dem Papier entsteht. Sein künstlerischer Weg führte ihn vom Zeichenblock zum Zellstoffblock. Zunächst verwendete er Papierstücke als gestalterisches Element für seine Aquarelle, um ihnen Reliefcharakter zu geben. 1986 entdeckte Heuwinkel dann das Material Zellstoff, das er zunächst mit den Händen bearbeitete. Einige Jahre später begann Heuwinkel, große handelsübliche Zellstoffblöcke, die ein Gewicht von etwa zwei Tonnen haben, mithilfe eines starken Wasserstrahls zu modellieren. Der Künstler hatte die Möglichkeit, direkt in einer Zellstoffabrik in Süddeutschland zu arbeiten und so vom vorhandenen Platz und vom Wissen der dortigen Angestellten zu profitieren. Ein Beispiel für diese Technik ist der "Zellstoff-Block" von 1997 (Abb. 43). Ein Block industriegefertigter reinweißer Zellstoffplatten, die von Metallbändern zusammengehalten werden, zeigt an einer Seite tiefe Täler und Furchen, die durch den gewaltsamen Eingriff mit dem Wasserstrahl entstanden. Das künstlerische Resultat der Wassermodellierung gleicht Schneefeldern oder Eisschollen. Obwohl die Einflüsse der Destruktion offenliegen, wirkt die Skulptur im makellosen Weiß dennoch pur und rein. Die horizontal und vertikal umlaufenden Stahlbänder betonen den Kontrast zwischen dem lebendig wirkenden Zellstoff, der seine künstliche Quaderform partiell verloren hat und sich stetig verändert, und der statischen Kraft des Metalls, die dem Auseinanderfallen der Platten entgegenwirkt. Ein Zellstoffblock saugt sich so sehr mit Wasser auf, dass die Fasern stark aufquellen und der Block in nennenswertem Umfang "wächst". Heuwinkels erster Versuch endete damit, dass der naß modellierte Block sich so verformte, dass er seine Stahlbänder sprengte! Da er diese Art der Zerstörung nicht beabsichtigt hatte, ließ Heuwinkel bei weiteren Versuchen die Stahlbänder etwas lockerer befestigen. Einmal durchnässt, sind die Veränderungen des Zellstoffs auch im Laufe des Trocknungsprozesses nur bedingt kalkulierbar. Der Zufall, die Bewegungsabläufe der Natur und die Eigendynamik des Werkstoffes bestimmen das Erscheinungsbild der Skulpturen.
Hat Heuwinkel in den mit Wasser bearbeiteten Skulpturen die Grundelemente der Papierherstellung - Zellstoff und Wasser - thematisiert, ist es ihm in anderen Skulpturen ein Anliegen, Zellstoff wieder mit dem Rohstoff Holz zusammenzuführen. So entstanden "Baumstämme" aus gerollten Zellstoffbahnen, deren raue Oberfläche teilweise wie Baumrinde absplittert. Manche sind vom Wasser sogar durchbohrt. Die weißen Stelen führen neben ihrer skulpturalen Qualität die Herkunft des Papierfaserstoffs aus dem Holz von Bäumen vor Augen. Noch weiter geht eine Installation, die Heuwinkel 2001 auf dem Freigelände der Papiermühle VERLA in Finnland realisierte. In 16 Zellstoffblöcke wurden je ein Kiefern-, Fichten- oder Birkensetzling eingepflanzt. Der Zerfallsprozess aus Wachstum und Verwitterung bestimmt die Form des Kunstwerks, die der Künstler nicht mehr beeinflussen kann. Das Papier verrottet nach und nach durch Sonne und Regen und wird von den Baumwurzeln durchdrungen und zerstört. Eigentlich handelt es sich um einen kannibalischen Kreislauf: Der Baum lebt von jenem Stoff, der aus den Fasern seiner Gattung hergestellt ist. Heuwinkel bezeichnet diese Kunstwerke als Symbol für die Ethik der Nachhaltigkeit - für jeden zur Papierherstellung gefällten Baum sollte ein neuer gepflanzt werden. (Dabei ist anzumerken, das das Wort "Nachhaltigkeit", das heute in Wirtschaft und Politik in aller Munde ist und langfristiges, zukunftsgerichtetes Handeln bezeichnen soll, ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammt - es sollten nie mehr Bäume gefällt werden als im gleichen Jahr nachwachsen.) Einen ähnlichen, vom Künstler nicht mehr gesteuerten Verfallsprozess dokumentiert ein Zellstoffblock, der 2000 im Schloß Lüntenbeck in Wuppertal dem Wasserstrahl einer Regenrinne und der natürlichen Witterung ausgesetzt wurde. Dadurch "nimmt die Zellulose nicht nur neue geologisch-erosive Formen und organische Formen an, sondern sie verlebendigt sich und fügt sich letztlich wieder ein in den Naturkr eislauf. Der Zellstoff fließt ins Gras oder Unterholz, wird vom Boden aufgesogen, verrottet dort und bildet Humus." (Herbert Pogd, in Kat. Lippisches Landesmuseum Detmold (2001), S. 71.)

Die vorliegende Studie wurde im Jahr 2005 mit dem Förderpreis der Benvenuto Cellini-Gesellschaft für die beste kunstgeschichtliche Dissertation der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. ausgezeichnet.

Cycle of metamorphosis. Cellulose. Not very interesting. Paper? You can make all kinds of things out of paper. But on the other hand, paper is cellulose.
Perhaps you can treat cellulose like paper. Burn it, cut and tear it, wet it, Bend it and paint on it. Maybe you could grow something in it?
Cellulose is wood. Could a tree grow in it?
For several years, the German artist, Wolfgang Heuwinkel, has worked with Paper, and its preliminary stage - cellulose - shaping and crumpling it, and making relief's and plastic forms.
Cellulose fibres can be shaped and when the material dries, the Shape will survive in its own way, perhaps shrunken and wrinkled but nevertheless in recognizable form. And when a sheet of paper is burned, it will first blacken, then carbonize and finally disintegrate. On the otherwise white surface one can clearly see light and shadow, torn edges and charred parts.
These are precisely the interesting properties of paper and cellulose.
At first Wolfgang Heuwinkel painted water colours but he gradually began To give his works more three-dimensional form, specifically using the plastic properties of paper - and water, mechanical wear and shaping. The preliminary stage of paper, cellulose, and the wood itself were included. Trees are felled, they die and are transformed into a white snow-like material.
Finland is known for its forests, paper and paper mills. One of the most special facilities in this field is the Verla paper mill in South East Finland. Preserving by chance 19th-century industrial architecture in almost original condition, the Verla mill was recently added to UNESCO's World Heritage List.

It was here that Heuwinkel made his most recent work, the installation Cycle of Metamorphosis, consisting of 16 blocks of cellulose corresponding to the 16 windows of the main building of the mill. Planted in each block is a sapling of the wood from which the cellulose is made. The image of the mill is reflected in its product - and the cellulose reverts to become a substrate, the soil from which a new tree sprouts.
Anne Veinola, FORM FUNCTION FINNLAND, Helsinki, 2001